Thursday 10 January 2008

Der indische Pate

Ich sitze in einer kleinen Teehütte den „Valiyaparamba Backwaters“ und genieße den lauen Wind im Schatten. Auf meiner Fahrt nach Süden bin ich zum ersten Mal Zielen gefolgt, die nicht in meinem Reiseführer standen., da ich zur Zeit einen lokalen Reiseführer benutze, den mir Roopa gegeben hat. Auf diesem Wege bin ich schon seit zwei Tagen keinem westlichen Touristen mehr begegnet, habe aber Schwierigkeiten eine Unterkunft zu finden, weil alle günstigen Hotels mich nach der Nationalität fragen und mich wegschicken, weil sie anscheinend nur Indern Unterkunft bieten wollen. Nachdem ich gestern Abend 4 Hotels erfolglos probiert hatte, gab ich im 5. vor, dass ich aus Sikkim, dem Nordosten Indiens stamme, dessen Menschen sehr asiatisch aussehen, und wurde prompt mit einem Zimmer belohnt. Meine neue sikkimsche Identität funktioniert auch beim Eintritt in Sehenswürdigkeiten, die ein Vielfaches an Geld von nicht indischen Touristen verlangen.
Ich bin dazu übergegangen alle Kurzstrecken mir zu erlaufen oder per Anhalter mitnehmen zu lassen. Ich sehe hierbei so viele neue und unterschiedliche Seiten Indiens, weil ich durch Slums laufe und nur ein paar Meter weiter an sehr westlich anmutenden Villen vorbeiziehe.
Kerala, der südwestliche Bundesstaat Indiens, ist der landschaftlich schönste Teil Indiens, den ich bisher gesehen habe. Satt grüne Palmenwälder werden durchzogen von Kanälen und Flüssen, die in das Arabische Meer münden.
Ich wurde gerade von Bootsmenschen umzingelt, die mir Kerala näher bringen wollten, als sie meine Karte von Kerala sahen. Auf meiner Karte sind jetzt alle möglichen Sehenswürdigkeiten und Orte markiert, die ich laut meinen neuen „Freunden“ unbedingt sehen muss.Es findet sich sogar eine Telefonnummer darauf, die ich anrufen soll, falls ich in der Nähe von „Punnamada“ sein sollte und dort eine Unterkunft benötige. Es ist unglaublich wieviel bereichernder meine Reise wird, sobald ich die abtrampelten Pfade verlasse. Die Bootsmenschen haben mich auf ein lokales Boot gesteckt, dass mich durch die Backwaters fährt. Eigentlich ist es ein Wassertaxi für die einheimische Bevölkerung, aber es lässt sich auch als Führungsboot benutzen. Ich fuhr die Flußarme an Palmenwäldern und vereinzelten Häusern entlang, passierte Fischerboote, deren Fischer im Wasser standen, um die Netze zu kontrollieren, und bemerkte, dass ein großteil der Bevölkerung hier islamisch geprägt ist. Auf der Rückfahrt verfolgte ich gespannt den Sonnenuntergang vom Boot aus, wie er die Fischernetze und die Palmen in ein leichtes Rot tauchte und sich im Wasser spiegelte.
Zurück in der Kleinstadt entschied ich mich den Zug nach „Calicut“, einer der größten Städte Keralas, zu nehmen, weil es dort vermutlich bessere Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Ich lief also zu dem kleinen Bahnhof, der absolut verlassen aussah, und fand zum Glück einen geöffneten Ticketschalter. Der Mann gab mir ein Ticket für die ersten beiden Wagons, die für unreservierte Tickets frei gehalten werden, und machte mich noch daurauf aufmerksam, dass bald ein geplanter Stromausfall folge. Es ist hier ganz normal, dass der Strom für eine Stunde pro Tag abgeschaltet wird, da die Kraftwerke den Bedarf an Strom nicht konstant decken können. Eigentlich könnten wir dies auch in Europa anwenden, sozusagen als passiven ökologischen Beitrag für alle. Ich habe gerade diesen Gedanken weitergesponnen und mit mir selbst über die Machbarkeit diskutiert, aber bin leider bei einer Grundsatzdiskussion gelandet.
Ich saß also im stockdunklen Bahnhof, sah ein paar Lagerfeuer in der Ferne und verfolgte ein Licht auf mich zukommen. Es war eine Gruppe von 6 Männern, die über die Schienen stiegen und mich quasi umzingelten. Ich hatte ein recht mulmiges Gefühl, weil die tiefschwarze Nacht und der verlassene Bahnhof mein Gefühl des Misstrauens gegenüber der Gruppe noch verstärkten. Der eine fing an zu reden: „May I introduce myself ...“ (Dürfte ich mich vorstellen ...) und ich kam mir vor wie in den Mafiafilmen (Sorry Salvo ;-), es bleibt wohl für immer an Sizilien haften!), in denen sich der Pate vorstellt, was nichts Gutes zu bedeuten hatte. Letztendlich musste ich nur mit dem Paten reden, um mein Leben zu retten. Sie waren alle Handwerker aus der Stadt und wussten, dass ein Tourist in der Stadt war und kamen aus Neugier, sowie dem Ehrgeiz ihr Englisch zu verbessern. Ich finde es ein bisschen beängstigend, dass die ganze Stadt wusste, dass ich da bin und vor allem, wo ich bin.
Der „Pate“ war Rikschafahrer bei Tage und sprach ein erstaunlich gutes Englisch, obwohl er nie Englischunterricht hatte, weil er die Schule nur bis zur 4. Klasse besuchte. Er hatte aber ein großes Interesse für Sprachen und nutzte jede Gelegenheit, um sich zu verbessern, besonders wenn sich mal ein Tourist in die Kleinstadt verirrte. Für mich ist es sehr bewundernswert und auch ein wenig traurig, weil ich mich frage, was wäre, wenn er die Freiheit unserer Möglichkeiten gehabt hätte.
Ich ließ ein paar meiner Gedanken beim „Paten“, verabschiedete mich und stieg in den vollsten Zug meines Lebens. Unreserviert Reisen heißt Stehgarantie mit gratis Massenkuscheln. Es machte mir nichts aus in den Wagon mit Holzbänken zu steigen, weil ich eh die ganze Zeit stehen musste. Ich habe keine Platzangst, keine Berührungsängste und überrage die meisten Inder um einen Kopf, was lebensnotwendige Voraussetzungen sind, um in den ersten beiden Wagons in Indien zu reisen und zu überleben. Es war sehr warm, die Luft war stickig und ein Geruchscocktail aus Schweiß, Urin und Scheiße verstärkte den Stress auf die Passagiere, so dass es zu einer kleinen Rangelei kam, die zum Glück nicht in einer Massenschlägerei endete.
Ziemlich übermüdet und leicht gestresst kam ich in „Calicut“ an und begab mich um 23 Uhr auf Hotelsuche. Was ich nicht wusste, war die Tatsache, dass eine große Hochzeit in der Stadt stattfand und keine Zimmer mehr zu finden sein würden. Ich lief durch die ganze Innenstadt und fragte mich in 10 Hotels durch, bevor ich zum Bahnhof zurückging und mich auf den Boden im Warteraum neben die anderen Passagiere legte.
Es ist jetzt 8 Uhr morgens, ich trinke meinen 4. Chaitee und frage mich, was mich gestern geritten hatte, dass ich Bus, Boot, Bahn gefahren und getrampt bin, um 300 km zurückzulegen, 2 Forts zu besuchen und auf den Backwaters rumzutuckern. Ich glaube, dass es in dem natürlichen Chaos Indiens liegt und ich es deshalb so sehr genieße.

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